3. Türkei I (Juni 2023)

Erst gegen 18 Uhr abends erreichen wir die griechisch-türkische Grenze. Es ist der 3. Juni, wir sind seit 24 Tagen unterwegs und haben rund 2000 Kilometer zurückgelegt.
Für mich ist es das erste Mal in der Türkei, Rolf war vor über 40 Jahren auf seiner Überlandreise nach Asien schon mal da.
Wir sind beide gespannt. Wie wird die Stimmung im Land sein, so kurz nach den Wahlen? Wie werden wir uns verständigen? Wie werden die Straßen sein?

Und wo werden wir übernachten? Jemand hatte von seinen guten Erfahrungen – und den günstigen Preisen – über Airbnb in der Türkei berichtet. Wir versuchen also, für den ersten Abend eine Unterkunft zu buchen, aber niemand antwortet. Sollen wir aufs Geratewohl zum erstbesten Hotel fahren? Bei Recherchen über booking.com, noch von Griechenland aus, waren wir geschockt von den hohen Preisen, und hinter der Grenze ging über dieses Buchungsportal plötzlich gar nichts mehr.
(Viel später erfuhren wir, dass die türkische Regierung „Booking.com“ blockiert hat, man braucht also eine VPN. Ein guter Tipp ist auch die türkische App „Otelsz“. Dies nur nebenbei, für Türkeineulinge. Mit Airbnb hat es rückblickend nur einmal geklappt, und das mit viel Hessel. Denn das ursprünglich gebuchte Appartement war plötzlich angeblich schon belegt, ein Ersatz wurde vorgeschlagen. Das ganze Prozedere, die Kommunikation und das Auffinden der Adresse waren ziemlich nervig. Viele Vermieter mauscheln herum, um die Kommission zu sparen, was auch wieder verständlich ist, wenn man bedenkt, dass sich mit jeder Buchung in San Francisco jemand eine goldene Nase verdient.)
Wir sind also gerade eingereist und befinden uns noch am Eingangstor zur Türkei, einem monumentalen Protzbau im Niemandsland. Vom Minarett der Autobahn-Moschee tönt gerade andachtsvoll der Ruf zum Gebet. Was wir brauchen, ist aber erst einmal ein Geldautomat, etwas zu trinken und Internet. Im Dutyfree-Shop gibt es außer Alkohol keine Getränke, das macht schon mal nachdenklich. Doch wir finden einen Wasserhahn zum Auffüllen unserer Flaschen, und Wifi gibt es auch. Aber nach zermürbendem Geklicke und Gefummel auf dem Smartphone lassen wir das mit dem Buchen und fahren endlich los, in die Türkei.

Wir benutzen den Randstreifen eines vielbefahrenen Highways, eine Alternative gibt es erstmal nicht. In regelmäßigen Abständen liegen abgerissene LKW-Drahtseilplomben herum, was mir ein Rätsel ist. Als Radfahrer macht man sich immer so seine Gedanken. In China lagen einmal in immer gleichen Abständen Chili-Schoten am Straßenrand, in Kambodscha Bonbons, in Vietnam Geldschein-Imitate. Vielleicht Opfergaben für die Erdgeister oder den Unfall-Schutzengel, so erklärte ich mir das. Aber das hier? Eine Schmuggler-Schnitzeljagd? Ein gelangweilter Beifahrer? Hat jemand eine Idee?
Egal. Es ist spät geworden, und bis zu irgendeiner Unterkunft in der nächsten Stadt würde es zu weit. So biegen wir ins erstbeste türkische Bauerndorf ab und deuten fragend auf Wasserflasche und Zeltsack. Zwei Jungen begrüßen uns respektvoll auf Englisch „Welcome to Turkey!“. Die ältere Schwester spricht richtig gut Englisch, führt uns in den Hof zum Wasserhahn, und zelten dürften wir selbstverständlich auf der kleinen Wiese zwischen Straße und Jauchegrube… Wir bedanken uns höflich und gucken mal weiter. Es gibt mehrere Bauernhöfe, dazwischen viel Freifläche. Die Menschen wirken einfach, unverdorben und sind sehr freundlich. Wir finden dann einen besseren Platz am Dorfrand, und nachdem die letzten Bäuerinnen mit ihren Viehherden heimgezogen sind, schlagen wir das Zelt auf. Nur einen Kilometer Luftlinie vom Highway entfernt ist es absolut ruhig und ländlich, und wir fühlen wir uns willkommen und sicher – auch dank unseres Bewachers.

Unsere Türkeiroute soll die Ägais- und Mittelmeerküste entlang gehen, nicht durch Istanbul. So biegen wir in Kesan vom Highway ab und fahren auf dem Rücken einer Halbinsel zwischen zwei tiefblauen Gewässern dahin, der Ägais und den Dardanellen, einer Meerenge, die zum Marmarameer führt. In der kleinen Stadt Gelipoli klappern wir alle Hotels ab – man hat sich mit den Preisen anscheinend abgesprochen, 1000 Lira und keinen weniger, und der einzige Airbnb-Anbieter antwortet auch nicht – und finden schließlich eine bezahlbare Absteige.
Die Inflation in der Türkei ist enorm. Anfang Juni bekam man für 1 Euro 20 Türkische Lira, 4 Wochen später waren es 25 und inzwischen sind es 30! Die Preise explodieren also. So schnell können sie gar keine neuen Preisschilder drucken.
Anderntags machen wir einen Badestopp in einer Bucht und schauen eine Weile den riesigen Tankern zu, auf ihrem Weg durch die Dardanellen. Dann eine kurze Überfahrt mit der Fähre (es kostet nur 10 TL pro Nase), und wir sind in der Hafenstadt Canakkale. Hier sind wir wieder mal zu schnell und verpassen die Haupt-Sehenswürdigkeit, das Trojanische Pferd. Nicht das Original natürlich, sondern die berühmte Requisite aus dem Hollywoodfilm mit Brad Pitt. Der gigantische Holzgaul wurde nach den Dreharbeiten, die in Mexiko und auf Malta stattfanden, in der Stadt Canakkale aufgestellt, denn diese ist für viele Touristen das Tor zum historischen Troja. (Als Ersatz für unser Versäumnis, und um unsere Wissenslücken zu schließen, haben wir uns, kaum wieder zu Hause, als erstes diesen Monumentalfilm reingezogen.)
Unser Tor nach Troja heißt Firat. Auch wenn ich erst bei der Beschreibung des dritten von 30 Tagen in der Türkei bin, ein paar Worte zu Firat müssen sein! Er ist ein Warmshowers-Gastgeber mit Leib und Seele. In einem Küstendorf südlich von Canakkale besitzt er ein selbst entworfenes Sommerhaus, in dem wir zu Gast sein dürfen. Es ist sehr geschmackvoll und überaus praktisch eingerichtet. Firat ist um die 60, er weiß und kann unglaublich viel und ist auch noch ein Superkoch. Er tischt die erlesensten regionalen Spezialitäten auf, dazu selbst gekelterten Wein. Die Gespräche gehen von Kochrezepten und der Herstellung von Raki und Olivenseife über Religion, Atheismus und Politik bis zu den Ausgrabungen von Troja und die skandalöse Rolle, die Heinrich Schliemann dort spielte. Womit wir beim Programm des nächsten Tages wären. Denn selbstverständlich dürfen wir ein zweites Mal übernachten um mit ihm zusammen einen Tagesausflug zu den 17 Kilometer entfernten Ruinen von Troja zu machen!

Bei bestem Wetter führt Firat uns eine schmale Küstenstraße entlang. Ich bin begeistert von dem Morgen, von der Intensität der Farben und der Energie dieses Küstenstrichs. Kein Wunder, denke ich, dass sich seit Jahrtausenden die Völker um diese paradiesische Gegend gestritten haben. Zu dritt wandern wir durch das riesige Museum, ein auf den ersten Blick schmuckloser Würfel, aber mit ausgeklügeltem Konzept und sehenswerten Exponaten, und schließlich durch die weitläufige Ausgrabungsstätte, wo man allerdings viel Fantasie braucht, um aus den verbliebenen Steinhaufen im Geiste die Prachtstadt, die hier mal war, wieder auferstehen zu lassen.
Am Abend wollen wir uns mit Hausmacher Spätzle revanchieren. Unterwegs haben wir noch einen älteren Radfahrer aus Italien aufgegabelt, der verzweifelt nach einem nicht mehr existierenden Campingplatz suchte. Firats Gastfreundschaft kennt keine Grenzen. Und dann klopft auch noch sein Nachbar an, einen Teller mit Vorspeisen in der Hand, die Gitarre unterm Arm. Es wird ein äußerst geselliger, multikultureller Abend zu fünft. Der Musiker singt mit schöner Stimme melancholische Volksweisen, später singen wir alle zusammen ein paar internationale Dauerbrenner. Ich stelle belustigt fest, dass wir hier wohl eine 60+-Runde sind, aber es stimmt aber nur fast.
Zum Abschied erklärt mir Firat seine Lebensphilosophie: Wenn ich mal sterbe, bleibt mir nichts. Also kann ich auch jetzt schon alles, was ich habe, mit anderen teilen. Ganz einfach.
Die nächsten 5 Tage, bis Izmir, fahren wir immer an der Küste entlang, teils auf hügeligen, einsamen Nebenstraßen, mit Blick auf türkisblau schimmernde, traumhaft schöne Buchten, teils auf stressigen Highways an zugebauten Küstenstrichen.
In der Gegend gibt es viele Ausgrabungsstätten. Mal schauen wir nur kurz über den Zaun, mal fahren wir auch vorbei. Der Eintritt ist oft ziemlich überteuert, oder die Stätten liegen zu weit abseits. Die Überreste von Alexandria Troas aber sind kostenlos und direkt am Wegesrand zu besichtigen. Das ist gut, denn es ist sehr heiß geworden, und man scheut bereits jeden zusätzlichen Meter.

Für die Überbleibsel des Athena-Tempels von Assos nehmen wir alle Mühen und Kosten in Kauf, und es lohnt sich! Zwischen den mächtigen dorischen Säulen zu wandeln und der besonderen Energie dieses Ortes nachzuspüren, auf luftiger Höhe weit über dem Meer, mit Blick auf die Insel Lesbos, das hat was!

Einmal zelten wir auf einem einsamen, dürren Felsplateau. Am Morgen sehen wir in unmittelbarer Nähe mehrere etwa fahrradhelmgroße Landschildkröten grasen, und auf der Weiterfahrt zähle ich insgesamt 9 Stück.
Ein anderes Mal zelten wir in einem alten Olivenhain, und ein drittes Mal in einer Bucht, in der wir von weitem Wohnmobile stehen sahen. Es ist inoffizieller Campingplatz, jeder kann kommen und gehen wie er will. Vor einem Womo mit Nürnberger Kennzeichen sitzen Gottfried und Ingrid, ein Rentnerpaar auf längerer Abenteuertour. Sie kennen jeden Winkel der Türkei, scheint es, und geben uns ein paar Tipps.

Öfters sehen wir Tiny-Houses in der Gegend stehen, es scheint der neue Renner zu sein. Dann kommen wir an mehreren Retortendörfern vorbei, gleichförmigen, parallelen Reihen von schicken Ferienhäusern mit Meeresblick, mitten in der Macchia eines Steilhangs aus dem Boden gestampft.

Wir nähern uns der Millionenstadt Izmir. Es ist heiß, wir sind ziemlich durch den Wind und der Verkehr nimmt zu. In Aliaga machen wir nachmittags Stop an einem Supermarkt, eine eiskalte Cola muss her. Zu Hause ist dieses Gebräu für uns ein absolutes NoGo, unterwegs aber sind wir fast süchtig nach der Abkühlung mit dem Zucker-Koffein-Flash. Wir sitzen auf den Stufen direkt vorm Ladeneingang und trinken aus der 1,5 Literflasche. Da kommt eine Verkäuferin raus, aber nicht um uns zu verscheuchen, sondern sie stellt uns Plastikbecher hin. Dann kommt sie nochmal und schenkt uns Schokoriegel! Wir müssen echt fertig aussehen. Und beim dritten Mal fragt sie „You need any help?“, und als wir nach Wifi fragen, gibt sie uns von ihrem privaten Handy einen Hotspot. Sie kommt mir wie ein Engel vor. Was für eine unglaubliche Hilfsbereitschaft!
Rolf kriegt – dank Internet – eine schlechte Nachricht vom Bikeshop, das Ritzel ist noch nicht da! Es bräuchte jetzt wieder ein paar längere Erklärungen, Rohloff-spezifischer Art… Kurz: wegen dem Einbau dieses Ritzels fahren wir gerade in diese Stadt, zu einem bestimmten Bikeshop und haben uns für zwei Nächte bei Orhan, einem nahegelegenen Warmshowers-Gastgeber angemeldet. Was nun?
Wir rasen noch 30 Kilometer auf einem Ätz-Highway weiter Richtung Stadt. Dann steigen wir in eine S-Bahn – ein guter Tipp von Firat – und sind froh, im Zug zu sitzen, eine nette Deutsch-Türkin half uns mit den Tickets, und das Gewirr aus Schnellstraßen, Vororten und Hochhäusern saust an uns vorbei. Am frühen Abend steigen wir in Izmir aus.
Es kommt dann mal wieder alles ganz anders als erwartet. Rolf navigiert uns zwar genau dahin, wo auf dem Stadtplan der Gastgeber eingezeichnet ist, aber da ist nur eine riesige moderne Shopping-Mall. Was tun? Die Kommunikation ist schwierig – ohne mobiles Internet und türkische SIM-Card ist man praktisch aufgeschmissen. Aber die Menschen sind hilfsbereit, jemand telefoniert für uns, und kurz später fährt Orhan mit einem großen Auto vor, packt unsere Räder auf den Dachgepäckträger und bringt uns auf unübersichtlichen Schnellstraßen zu seinem neuen Zuhause, das völlig woanders liegt, in einer hochmodernen Satellitenstadt weit oben auf einem Hügel, am nördlichen Stadtrand von Izmir. Da hätten wir allein niemals hingefunden. Wir sind dankbar für dieses große Entgegenkommen, aber wie sollen wir von hier jemals wieder wegkommen, fragen wir uns? Nach mehreren Nächten im Zelt sind wir von der staubigen Landstraße urplötzlich in eine sehr komfortable, aber fremde, künstliche Welt verpflanzt worden. Wir verschieben alle unsere Fragen und Sorgen auf morgen. Orhan und Aliha, seine junge Frau aus Kambodscha, haben einen neunjährigen Sohn. Dann kommen noch Bruder und Neffe um uns zu begrüßen, und wir bemühen uns, trotz der Müdigkeit, um muntere Kommunikation, bis Aliha ein sagenhaftes asiatisches Essen auftischt!

Einen Tag lang schlafen und essen wir fast nur, die Familie ist ausgeflogen. Wir staunen über diese Kunstwelt und die grandiose Aussicht und trauen uns kaum aus dem Haus. Vom Radladen gibt es noch nichts Neues. Rolf hatte ein neues Ritzel von Deutschland an dieses Fahrradgeschäft schicken lassen, weil sein Wenderitzel nicht hielt, was es versprach und seine Kette ewig sprang, „Raatsch, Raatsch!“, was ihn allmählich zum Wahnsinn trieb. Orhan nahm uns jedoch alle Illusionen, als er sagte, dass diese Sendung garantiert nicht ankommen werde.
Am nächsten Tag geben wir es uns: Rolf hat eine weite Fahrrad-Rundtour durch Izmir vorbereitet, in deren Verlauf wir in drei Postfilialen nach dem Päckchen fahnden, erfolglos, dann in dem Radgeschäft statt dem Ritzel eine neue Kette aufziehen lassen und mit dem Inhaber einen netten Plausch haben – nebenbei erfahren wir, dass er auch bei warmshowers ist, wir hätten also auch bei ihm übernachten können – sowie die Hauptsehenswürdigkeiten auf der anderen Seite der großen Bucht abklappern, das „Szeneviertel“, den Uhrenturm und den Bazar. Der Tag ist eine einzige Herausforderung und Reizüberflutung. Ich bin überrascht, wie modern und quirlig die Stadt ist und wie tolerant und vielfältig die Menschen zu sein scheinen. Wir finden dann problemlos zurück und nehmen die herzliche Gastfreundschaft der kleinen Familie für eine dritte Nacht in Anspruch.
Für die Weiterfahrt nutzen wir erleichtert wieder die S-Bahn, bis die Stadtgrenzen weit hinter uns liegen.

2 Kommentare zu „3. Türkei I (Juni 2023)

  1. Dass Booking.com in der Türkei geblockt wird, haben wir noch nicht gewusst. Ist eigentlich unterverständlich, wenn Türken dort ihre Unterkünfte anbieten. Andererseits aber auch gut, um den Moloch in die Schranken zu weisen…
    Die App „Otelsz“ konnten wir nirgends finden, weder in der Internet-Suche, noch im App-Store… 😦
    Wir hoffen, dass wir schneller eine SIM-Karte bekommen als ihr. Es ist doch immer ein großer Geldwerter Vorteil, wenn man das Internet nutzen kann.
    Wir sind gespannt, wie es weiter ging.
    Liebe Grüße

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